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Konstruktion und Dekonstruktion als Handlungsmomente in interaktiver Kunst

Innerhalb der elektronischen Künste erfuhr die Interaktivität als Ausdrucksmittel erst eine massive Überschätzung, dann eine vehemente Kritik und weitreichende Ablehnung. Folglich war vielerorts von einer Krise der Interaktivität die Rede. Wie jede auch nur angenommene Krise bedurfte auch diese einer differenzierten Untersuchung , die einerseits zu einem infolge des vorausgegangenen Hypes zwangsläufig ernüchternden Ergebnis führte, andererseits eine neue Perspektive auf die Interaktivität in der künstlerischen Anwendung eröffnete.

Ernüchternd insofern, als dass festgestellt werden muss, dass trotz der nun schon Jahrzehnte andauernden Beschäftigung mit der Interaktivität, interaktive Kunst häufig gerade an der Konzeption von interaktivem Handlungsmoment und Rezeption krankt. Die Einbeziehung des Besuchers/Betrachters in eine Handlung bedeutet sowohl eine Öffnung des Kunstwerkes als auch eine Steigerung der rezeptiven und technologischen Komplexität, die der Künstler gestalten muss. Um dieses tun zu können, ist ein profundes Wissen um Interfaces, Besucherverhalten und –rezeption sowie eine präzise Konzeption der räumlichen und zeitlichen Konstruktion der künstlerischen Arbeit Voraussetzung. Solches Fachwissen wird heute zwar zum Teil schon an Kunsthochschulen vermittelt, oft jedoch immer noch ohne wissenschaftliche Grundlage. Insbesondere fehlt augenblicklich eine zielgerichtete Untersuchung der Rezeption interaktiver Kunstwerke im Ausstellungskontext, also eine Beobachtung und Analyse des individuellen Verhaltens der Besucher, die sich mit einem interaktiven Kunstwerk konfrontiert sehen. Es dominiert nach wie vor das künstlerische Experiment über die verhaltene wissenschaftlichen Analyse. So hat das künstlerische Experiment im Laufe der Zeit beispielsweise offenbart, dass interaktive Narration nur in einem sehr begrenzten Rahmen funktioniert und dass lediglich bestimmte Interfaces sinnvoll im Kunstkontext einsetzbar sind.

Eine neue Perspektive eröffnet sich allerdings, wenn man einer Beurteilung der interaktiven Kunst weniger den Hype um die Interaktivität in den 90er Jahren zu Grunde legt als vielmehr die heutige Ausgereiftheit einiger interaktiver Werke. Zudem hat sich seit den Anfängen ein hybrides Feld der avancierten künstlerischen Arbeit mit neuen Medien entwickelt, das von einer zunehmenden Vermengung und Überschneidung der elektronisch-künstlerischen Genres geprägt ist. So kann die Interaktivität neben beispielsweise der Konnektivität und der Generativiät ein Kernaspekt eines Kunstwerkes sein, wohingegen bei dem nächsten Kunstwerk andere Eigenschaften überwiegen und Interaktivität nur ein untergeordneter Aspekt innerhalb dieses Eigenschaftsgefüges ist.

Letztendlich, so muss konstatiert werden, ist die Interaktivität nur ein formales Paradigma der digitalen Medien unter einer ganzen Reihe von künstlerischen Ausdrucksformen. So hat sich zu Beginn dieses Jahrzehnts das Genre der Software-Kunst herausgebildet. Die vielfältigen Versuche einer Begriffsbestimmung oder Grenzziehung durch Festivals und Ausstellungen resultierten in einer vermehrten Wahrnehmung der künstlerischen Arbeiten, die sich in dem Spektrum zwischen generativer Kunst, Software-Kunst und Computational Design bewegten. Dabei förderte die theoretische Analyse von dem, was Software-Kunst tatsächlich von anderen künstlerischen Ausdrucksformen unterscheidet, wahrscheinlich weniger die Produktion von „reiner“ Software-Kunst, als dass sie vielmehr generell die künstlerische Reflexion mit oder über Software als Ausdrucksmittel stimulierte.

Jede noch so vorsichtige Bestimmung eines künstlerischen Genres ist unvollständig ob der Komplexität der künstlerischen Arbeit, insbesondere in den elektronischen Künsten funktioniert sie nur als gedankliche Kondensierung.

Dementsprechend subsummiert der Begriff der interaktiven Kunst heute Arbeiten, die gänzlich unterschiedliche interaktive Handlungsmomente aufweisen und kombinieren.
Die Bandbreite interaktiver Systeme in der Kunst reicht von reaktiven Arbeiten – also Kunstwerken, in denen der Betrachter/Besucher unmittelbar und ohne vorherige bewusste Entscheidung in eine Handlung einbezogen wird – bis hin zu simpler „Push-the-Button“- Interaktivität, bei der die gesteuerte (menschliche) Aktion eine direkte Handlung des Systems zur Folge hat. Letzteres bedeutet häufig, dass die interaktiven Regeln des Systems leicht lesbar und nachzuvollziehen sind, jedoch birgt die Einfachheit der so gestalteten Interaktivität mannigfaltige Nachteile. Das schnelle Erfassen einer interaktiven Handlungsreihe in einem Kunstwerk führt häufig zu einem nur oberflächlichen Sich-Einlassen des Besuchers, der das Verstehen der Funktionalität des Systems mit dem Verstehen des Kunstwerk gleichsetzt. Künstler, die heutzutage interaktive Kunst gestalten, sehen sich ähnlich wie vor 10 Jahren einem breiten Publikum gegenüber, das kein elaboriertes Wissen um interaktive Kunst mitbringt, sondern vielmehr von einer „Plug-and-Play“ und „Click-by-Click“-Konsumenten-Praxis geprägt und somit auf eine schnelles Erkennen und Verstehen gedrillt ist.

Gänzlich gegen eine solche schnelle und unvollständige Rezeption gerichtete Kunstproduktionen jüngeren Datums erweitern und bereichern die bis dato produzierte interaktive Kunst um ein dekonstruktives Handlungsmoment, das im weiteren anhand einiger Beispiele beschrieben und analysiert werden soll.

Die Installation n-Cha(n)t von David Rokeby besteht aus einem Verbund miteinander vernetzter Rechner samt Monitoren, Lautsprechern und Mikrophonen, der in einem geschlossenen, dunklen Raum durch Licht und Platzierung inszeniert ist. Die Monitore zeigen bildfüllend menschliche Ohren, die dem Betrachter zugewandt sind. Die Lautsprecher emittieren die Kommunikation der Rechner: Worte und Satzfragmente oder auch gemeinsamer Gesang, in das das System einfällt, wenn es lange genug ungestört von jeglicher menschlicher Interaktion bleibt. Jedes audiovisuelle Element der Installation symbolisiert auf diese Weise ein Individuum, das mit den anderen eine verbale Kommunikation pflegt, wobei die Textsynthese auf umfangreichen Datenbanken und grammatikalischen Regeln basiert und in Form von Assoziationsketten, die die Rechner miteinander bilden, generiert wird.

Der Betrachter tritt einem autonom agierenden System gegenüber, dessen Verhalten er nur durch einen verhältnismäßig langen Aufenthalt und durch Beobachtung, konzentriertes Zuhören und Durchwandern des Raumes verstehen kann. Denn das System lässt zwar menschliche Interaktion zu, jedoch nicht immer und an allen Stellen: Der Besucher kann nur mithilfe seiner Stimme interagieren, wenn eines der Elemente „aufnahmebereit“ ist, was durch das unbedeckte Ohr auf dem Monitor erkennbar ist.

Rokebys Installation ist ein Verbund künstlicher Wesen, die so gestaltet sind, dass sie in erster Linie miteinander über den Austausch von Daten interagieren. Die Wesenhaftigkeit der Elemente vermittelt sich also durch deren verbale Kommunikation, ihre individuellen Zustände und Verhaltensphasen, und nicht zuletzt durch ihre äußere Ähnlichkeit. Natürliche Systeme basieren auf dem Konzept der Population, deren Komplexität durch die Mannigfaltigkeit der in ihr wohnenden Interaktionen bestimmt wird. Die Illusion von Wesen einer Art wird durch die mehrfache Wiederholung ihrer äußeren Erscheinung und ihres auf Muster reduzierten Verhaltens erreicht. Dabei, so betont Rokeby, gehe es ihm nicht um die Erschaffung der Illusion von menschenähnlichen Wesen. Zudem erhält das System durch die Wiederholung ihrer Elemente und Handlungsformen ein hypnotische, repetitive Qualität.

Dem Besucher/Betrachter wird innerhalb dieser Arbeit eine dezidiert beschränkte Rolle zugewiesen: Im extremen Fall „stört“ er das System in seinem generativen Prozess und in seiner am deutlichsten eine Einheit versinnbildlichen Äußerung: dem Gesang. Die fehlende Aufnahmebereitschaft der Elemente, die dann auftritt, wenn sie „denken“ oder zuviel Input von außen haben, also in höchst intensiven Phasen der Generierung, wird versinnbildlicht durch das Zuhalten des Ohres mit einem Finger oder der ganzen Hand.

In der interaktiven Kunst besitzen interaktive Handlungen zumeist konstruierende Qualität. Die Konstruktion besteht darin, dass mit der oder durch die Interaktion einzelne Elemente des Werkes (neu) zusammengefügt, gebildet oder in einer neuen Anordnung gezeigt werden. Die aktiv eingreifende Person erreicht durch ihre Interaktion eine Konstruktion, die für gewöhnlich einen ästhetischen oder inhaltlichen Mehrwert darstellt. Häufig motiviert dieser in einer interaktiven Umgebung zu erwartende Mehrwert den Besucher, mit dem System in Interaktion zu treten. Es ist festzustellen, dass in der Vergangenheit und speziell zu Beginn der interaktiven Kunst die Konstruktion als häufigstes Gestaltungsmittel verwand wurde, auch heute weist die Mehrheit interaktiver Kunstwerke diese konstruktive Qualität auf. Merkmal dieser auf einem konstruierenden Handlungsmoment basierenden interaktiven Konzepte ist die konzeptionelle Betonung und Ausarbeitung der interaktiven Ebenen des Kunstwerkes in Verhältnis zum oft nur einleitenden, nicht-interaktiven Teil des Kunstwerkes. Die konstruktive Handlung steht konzeptionell im Mittelpunkt, um die herum die Arbeit gedacht und inszeniert wird.

Diese konstruktive Qualität besitzt auch n-Cha(n)t , denn wenn eines seiner Elemente aufnahmebereit ist und der Besucher in dieser Phase ein Wort einspricht, wird diese Text-Information von dem Rechner verarbeitet: Erst sucht er in der Datenbank nach verwandten Begriffen und Assoziationen, die er dann nach außen vermittelt. In einer zweiten Phase wendet sich der durch Sprache stimulierte Rechner an ein oder zwei benachbarte Computer, die sich bis dahin mit anderen Begriffen beschäftigt haben und nun versuchen, diese neue Information zu verarbeiten.

Die Interaktion in Rokebys Arbeit hat aber gleichzeitig auch eine wichtige dekonstruktive Qualität, da autonome Prozesse des Systems unterbrochen und gestört werden: Zum einen der schon erwähnten Gesang, der erreicht wird, indem sich die Rechner sprachlich immer weiter annähren, bis sie zu einem Punkt gelangen, an dem ihre Rede sich fast auf Wort gleicht. Zum anderen stiftet auch das Einsprechen eines Wortes während der individuellen „Denkphasen“ der Systemelemente Chaos, denn die Gemeinschaft der Computer versucht nun, mit der neuen Information umzugehen und beendet damit den vorhergehenden Prozess.

Ein solches Zusammenspiel von Generierung und Interaktion bzw. Dekonstruktion und Konstruktion findet sich beispielsweise auch in der Arbeit Autopoiesis von Kenneth Rinaldo, in der robotische Skulpturen untereinander mithilfe von Telefontönen kommunizieren. Ist die Installation ohne Besucher, generiert das System selbstständig neue Verhaltensmuster im Rahmen seiner vorgegebenen Programmierung. Doch anders als in Rokebys Arbeit handelt es sich bei Autopoiesis um eine reaktive Installation, die unmittelbar und jederzeit auf Personen reagiert, die sich ihr nähern. Durch das Betreten der Installation, das von Infrarot-Sensoren wahrgenommen wird, stoppt das System die bis dahin mit einer Art implementiertem Gruppenbewusstsein ausgeführte, autonome Handlung. Einzelne Skulpturen reagieren ohne Verzögerung auf die Präsenz von Besuchern. Ihr Verhalten ist dann gekoppelt an das Verhalten des Besuchers, doch selbst in dieser Phase des Handlungsverlaufs generiert das System noch unvorhersehbare Verhaltensweisen innerhalb ihres physisch limitierten Handlungsspielraumes. Da das so gestaltete Verhalten des Systems bis zu einem gewissen Grad als menschen- oder tierähnlich empfunden wird, findet der Besucher sich intuitiv in der interaktiven Installation zurecht und erkundet spielerisch das vorgegebene Interaktionsspektrum. Während also singuläre Skulpturen auf den Besucher reagieren, können andere Teile der Installation nach wie vor autonom agieren, so dass sich eine ständig verändernde Balance zwischen und Interaktion und Autonomie des Systems sowie zwischen konstruktiven und dekonstruktiven Handlungsmomenten ergibt.

Im direkten Vergleich der beiden Installationen wird deutlich, dass das dekonstruktive, interaktive Handlungsmoment bei n-Cha(n)t ausgeprägter ist, da das System eine größere Autonomie besitzt als Autopoiesis. Die autonomen Modi beider Installationen haben eine große audiovisuelle Qualität und vermitteln den Eindruck von „Selbstgenügsamkeit“. Allerdings sind die kinetischen Skulpturen Rinaldos physisch und räumlich präsenter und schon als bewegliche Objekte so interessant, dass der Besucher sich unwillkürlich nähert und vom reaktiven System in seine Handlung einbezogen wird.

Für den Besucher ergibt sich bei n-Cha(n)t ein gänzlich anderer Rezeptionsverlauf: Da seine Spracheingabe nur eine singuläre Stimulanz des System darstellt, und die sich anschließende die Bildung von Assoziationsketten und die Kommunikation mit den anderen Rechnern eine ganze Zeit lang hinzieht, ist das Verhältnis zischen Interaktion und Autonomie hier völlig zugunsten der Autonomie des Systems gewichtet. Genau dies stellt auch die Problematik in der Rezeption des Kunstwerkes dar, das mit gängigen Interaktionsparametern bricht und nach einem sich auf die zeitliche und räumliche Situation sowie den Handlungsverlauf einlassenden, aktiven und aufmerksamen Rezipienten verlangt.
Derartig komplexe Interaktionsmodi entsprechen in viel größerem Maße den Interaktionsparadigmen des wirklichen Lebens als es eine eindimensionale „Push-the-Button“-Interaktion tut. In der Anwendung verhindern sie die schnelle Konsumierung von Kunst und stoßen ein Tor auf zu einer intellektuell und formal anspruchsvollen interaktiven Kunst.

Während also das dekonstruktive Handlungsmoment bei autonomen Prozessen eingesetzt wird, ist die Dekonstruktion als interaktive Methode auch bei anderen, non-generativen Arbeiten anwendbar. Bei einer der frühen interaktiven Werke, dem Zerseher von Dirk Lüsebrink und Joachim Sauter, wird durch den Blick des Betrachters das digitale Bild eines
Gemäldes von Francesco Carotto zerstört. Anhand dieses Beispiels offenbart sich auch die ambivalente Qualität der Dekonstruktion, die in einem zweiten Schritt auch immer eine konstruktive Eigenschaft besitzt. Denn der Betrachter dekonstruiert mit seinem Blick die ursprüngliche Erscheinungsform des Bildes, ein Vorgang, der beim erstmaligen Betrachten des Bildes überrascht. Jedoch versteht der Betrachter nach kurzer Zeit das Interaktionsprinzip und damit in der Lage, die Dekonstruktion und Störung bis zu einem gewissen Grad bewusst zu kontrollieren und konstruktiv einzusetzen, d.h. den Blick zu lenken, um bestimmte visuelle Effekte zu erreichen.

Eine noch weiter ausgebaute, zeitweilige Dominanz von technologischem System über die interagierende Person, wie zum Beispiel in dem experimentellen Sound-Interface actionist respoke von Rüdiger Schlömer und Michael Janoschek , kann zu einem spielerischen Wettkampf zwischen den Systemen führen. Im Gegensatz zu den vorher beschriebenen Arbeiten wird hier die Dekonstruktion vom Programm ausgeführt wir: autoaktive Sound-Fragmente stören die vom Menschen konstruierte Soundlandschaft zum Teil so sehr, dass sie letztendlich das ganze Sound-Biotop kippen können.

Interaktive Kunst, welche die Dekonstruktion von Prozessen oder Zuständen beinhaltet, basiert auf der Vorstellung von der Autonomie zweier aufeinandertreffender, komplexer Systeme, des Menschen und technologischen Systems. Dieses Interaktionsmodell entspricht in größerem Maße der Beziehung von lebenden Organismen und ihrer Umgebung als dem bis dato präferierten, eindimensionalen Interaktionsmodellen in den digitalen Medien. Es verdeutlicht, dass trotz vielerorts spürbarer Technik-Verdrossenheit die Analyse und Übersetzung von intelligenten, lebenden Systemen und ihren Handlungsmodellen die (interaktive) Kunst bereichern kann. Und lässt hoffen, dass eine Konfrontation des Besuchers mit komplexen und anspruchsvollen Interaktionsmodi letztendlich zu einer elaborierten Rezeption dieser Kunst führt .
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Eine Version dieses Textes mit dem Titel "Interaktivität als künstlerischen Ausdrucksmittel" ist auch auf der netzspannung Website abrufbar, die alle Beiträge zur Publikation enthält.